Miloslav Kabeláč ist einer der wichtigsten tschechischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, ein großer Sinfoniker, Vordenker und Regimekritiker unter zwei Diktaturen. Der Preis für seinen unbedingten Willen zur künstlerischen Unabhängigkeit war die Unterdrückung und die politische Verleugnung seiner kompositorischen Bedeutung.
Während seines Studiums erhielt Miloslav Kabeláč wichtige musikalische Impulse von Erwin Schulhoff, Alois Hába und Karel Boleslav Jirák. Großen Einfluss hatte er als Musikregisseur im Tschechischen Rundfunk. Als Dirigent leitete er u.a. die Tschechische Philharmonie und das Rundfunkorchester Prag, mit seinem Kabeláč-Ensemble verwirklichte er zahlreiche Premieren und Uraufführungen (u.a. von Arnold Schönberg).
Mit der deutschen Besetzung und der Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren (1939–1945) brach für Kabeláč eine schwierige Zeit an. Von seiner jüdischen Ehefrau, der Pianistin Berta Rixová, ließ er sich auch unter dem Druck des Rundfunks nicht scheiden und verlor seine Anstellung, auch als Dirigent und Komponist trat er fortan nicht mehr öffentlich auf. Dafür komponierte er in den Kriegsjahren intensiv weiter. Auf die politische Situation reagierte er mit seiner eindrücklichen Widerstandskantate Weichet nicht! (Neustupujte!) - für Kabeláč ein «Aufschrei des Gewissens dieser Welt gegen die Gräuel und Unmenschlichkeit des Faschismus». Wie durch ein Wunder überlebte die Familie den Krieg.
Auf den kommunistischen Putsch im Jahr 1948 reagierte Kabeláč erneut musikalisch. Er komponierte „für die Schublade“ die Kantate Kummer (Žalost), deren eindeutig kritischen Text er allerdings nicht in die Partitur schrieb, da er bereits ahnte, dass er sich und seine Frau damit in Gefahr brachte. Kurz darauf erhielt er einen staatlichen Kompositionsauftrag. Seine Widerstandskantate schrieb er daraufhin in die Trauermusik für Blasorchester um.
Dieser Drahtseilakt zwischen geistigem Widerstand und wohlüberlegter Vorsicht, der Bewahrung der eigenen künstlerischen Identität und Integrität und dem Aufruf zur Nächstenliebe, zieht sich als kompositorisches Narrativ durch die Musik von Miloslav Kabeláč. Er lehnte jegliche Ideologien ab, unter dem kommunistischen Regime ließ sich der Komponist zu keiner Zeit vereinnahmen, er war kein Parteimitglied und hat – auch unter politischem Druck – keine Propagandawerke geschaffen. Sein Werk ist geprägt durch eine humanistische Grundhaltung, die sich auch in seiner Person widerspiegelt.
Die Musik von Kabeláč ist architektonisch und formal meisterhaft geschrieben, sie ist inspiriert durch die tschechische Geschichte und Folklore, aber auch von außereuropäischer Musik.
Kabeláč hat mit seiner Musik zwar nie ganz den tonalen Raum verlassen, aber er schaffte sich im Laufe der Zeit ein System modaler Strukturen, ähnlich wie Béla Bartók oder Olivier Messiaen. Ein philosophisches Referenzwerk ist sein Mysterium der Zeit aus den 1950-er Jahren. Aber auch seine acht Sinfonien (jede schrieb er für eine andere Besetzung) stehen wie ein Monument für sich. Darüber hinaus hat er ein umfangreiches Chor-, Kammer- und Klavierwerk hinterlassen, sowie viele Lieder und Musik für Kinder. Hier zeigt sich Kabeláč als ein Meister der Miniatur. Als einer der ersten tschechischen Musiker schrieb er elektroakustische Musik.
Ab den 1960-er Jahren wurde seine Musik verstärkt im Ausland gespielt, seine _Otto Invenzioni _ und Otto Ricercari für Schlagwerk gehörten zu den erfolgreichsten Kompositionen, die 7. Sinfonie wurde 1968 beim Festival Prager Frühling vom Symphonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden unter Ernest Bour uraufgeführt.
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings geriet sein Werk zunehmend in Vergessenheit, in Tschechien wurden Aufführungen verhindert, seine Musik verschwand immer mehr aus der Öffentlichkeit – auch im Ausland. Die Anreise zu einem ihm gewidmeten Gedenkkonzert (mit der Uraufführung seiner 8. Sinfonie, 1971) in Straßburg wurde ihm aus politischen Gründen verwehrt.
Kurz vor seinem Tod widmete Kabeláč seiner Frau zum 40. Hochzeitstag das Jüdische Gebet. Es war der Wille des Komponisten, dass dieses Werk die letzte Opuszahl tragen soll, obwohl er danach noch weiterkomponierte.
Nach seinem Tod kehrte die Musik von Kabeláč erst allmählich ins tschechische Konzertleben zurück. Doch die umfassende internationale Anerkennung blieb ihm bis zuletzt verwehrt.
Viele seiner Werke sind weder uraufgeführt, ediert noch eingespielt.
01. August 1908
Geburt Miloslav Kabeláč in Prag
1928 - 1934
Studium am Konservatorium in Prag (Komposition, Dirigieren, Klavier). Unterricht u.a. bei Karel Boleslav Jirák, Erwin Schulhoff, Alois Hába, Pavel Dědeček, Vilém Kurz
Ab 1932
Anstellung am Rundfunk als Musikregisseur, Tätigkeit als Dirigent, Gründung des Kabeláč -Ensembles
1934
Fantasie op. 1 für Klavier und Orchester
24. März 1936
Uraufführung der Vier Stücke op. 27, Nr. 4 von Arnold Schönberg unter Leitung von Miloslav Kabeláč
01. August 1936
Heirat mit der jüdischen Pianistin Berta Rixová
1938 - 1972
Mitgliedschaft im tschechischen Kunstverein (Umělecká beseda)
1939
Deutsche Besetzung der Tschechoslowakei („Protektorat Böhmen und Mähren“), Widerstantskantate Weichet nicht! (Neustupujte!)
1941
Beginn der Arbeit an Sinfonie Nr. 1
31. März 1942
Offizielle Entlassung vom Rundfunk wegen „gemischter“ Ehe mit Berta Rixová
28. Juli 1944
Aufforderung zur Zwangsarbeit im Arbeitslager Bystřice u Benešova
04. Oktober 1944 bis Kriegsende
Versteck im Krankenhaus in Náchod durch befreundete Ärzte
28. Oktober 1945
Uraufführung Kantate Weichet nicht! (Neustupujte!) im Rundfunk bei der ersten Wahl des Staatspräsidenten Edvard Beneš nach dem Zweiten Weltkrieg
11. Mai 1945 - 31. Dezember 1955
Erneute Anstellung beim Rundfunk, Leiter der Musikproduktion
18. März 1946
Geburt der Tochter Kát’a
1948
Kommunistischer Putsch in der Tschechoslowakei, Widerstandskantate Kummer (Žalost)
26. April 1949
Aufführung der Sinfonie Nr. 2 bei Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik Palermo durch Karel Ančerl
23. Oktober 1957
Uraufführung Mysterium der Zeit durch Karel Ančerl
1958 - 1962
Kompositionsklasse am Prager Konservatorium (SchülerInnen: Ivana Loudová, Jan Málek, Jaroslav Krček, Tomáš Svoboda, Jan Slimáček, Jaroslav Šaroun)
1965
Uraufführung der Otto invenzioni in Straßburg durch Les Percussions de Strasbourg (Auftragswerk), Uraufführung Eufemias Mysterion beim Festival Warschauer Herbst, Preis der tschechoslowakischen Musikkritik für Hamlet-Improvisation, Staatspreis
27. Mai 1968
Uraufführung Sinfonie Nr. 7 beim Festival Prager Frühling durch Sinfonieorchester des Südwestfunks unter Ernest Bour
1970
Auflösung des Verbands tschechischer Komponisten nach Niederschlagung des Prager Frühlings, Gründung eines neuen Verbands für regimetreue Komponisten, fortan gezielte Verdrängung der Musik von Miloslav Kabeláč aus öffentlichem Musikleben
15. Juni 1971
Uraufführung der Sinfonie Nr. 8 (Antifonen) in Straßburg (Konzert „Hommage à Miloslav Kabeláč“)
1972
Vollendung der elektroakustischen Komposition E fontibus Bohemicis
17. September 1979
Tod Miloslav Kabeláč durch Schlaganfall